Böllenfalltorstadion in Darmstadt: Mehr Tradition geht nicht

Was macht das Böllenfalltor so besonders für die Fans des SV Darmstadt 98? Eine kleine Spurensuche nach den Eigenheiten und gleichzeitig eine Liebeserklärung an die Heimat der Lilien (Erstmal die nackten Fakten?Hier geht’s zum Stadioncheck). Wenn man am Darmstädter Luisenplatz, dem zentralen Umsteigepunkt von Bus und Bahn, in die Straßenbahn Nummer 9 steigt und Richtung Endhaltestelle „Böllenfalltor“ fährt, braucht man laut Fahrplan neun Minuten bis zur Haltestelle „Steinberg / Stadion“. In diesen neun Minuten fährt man hinaus aus der Innenstadt, am Schloss und dem alten Friedhof vorbei, in eine feinere, sehr grüne Wohngegend.

Die Erinnerung an bessere Zeiten

Wenn man hier während der Fahrt aus dem Fenster schaut, kann man rechts die ständig neuen Werke der Sprayer der Stadt bestaunen und links an Spieltagen eine immer größer werdende Menge an blau-weiß gekleideten Pilgern beobachten, voller Vorfreude auf die kommenden 90 Minuten. Wenn dann die elektronische Stimme plötzlich die angestrebte Haltestelle verkündet, wundert sich so mancher Erstbesucher eines „Lilien“-Spiels, dass ein Fußballstadion in solch einem schönen Viertel mitten im Wohngebiet liegt. Man steigt aus dem Waggon aus, überquert die Nieder-Ramstädter Straße und läuft über den weitläufigen Parkplatz an der Böllenfalltorhalle vorbei, auf die Kassenhäuschen zu. Für viele Fans ist die Lilienschänke auf der rechten Seite der erste Anlaufpunkt, aber egal ob man die Halle links oder rechts passiert, die gewaltigen Flutlichtmasten und einen Teil der Stehplätze kann man schon von außen erkennen. Ab und zu überkommt einen bereits bei diesem Anblick die reine Ehrfurcht und die Erinnerung an bessere Zeiten – hier wurde insgesamt 19 Jahre erste und zweite Bundesliga gespielt! Nach dem Vorzeigen der Eintrittskarte und den ersten drei Schritten quer über den Tribünenvorplatz registriert der regelmäßigen Besucher sofort ein vertrautes Gefühl: Der Duft frisch gebratener Bratwürste steigt in die Nase, man hört im Hintergrund Stadionsprecher Henry Stein im breitesten Dialekt vom kommenden Spiel der U19 berichten und erblickt schon nach einigen Sekunden das erste vertraute Gesicht. Willkommen zuhause!

Die kleinen Details

Auf dem Weg zu seinem abgestammten Platz nimmt man sich wahlweise noch einen Lilienkurier oder eine Mannschaftsaufstellung aus dem Fanshop mit – schließlich angekommen lässt man die reine Magie eines sich füllenden Fußballstadions auf sich wirken – seines Stadions;: Der Blick wandert einige Male durch das weite Rund. Ist alles noch an seinem Platz? Die Flaggen des Vereins und des derzeitigen Hauptsponsors wehen über der Gegengerade, etwas darunter hängt wie immer etwas schief das Banner der Leute von F.F.A. Wie viele Gästefans haben sich denn bisher eingefunden? Doch schon so viele? Lässt auf eine gute Atmosphäre hoffen! Ach ja, die gute Dugena-Uhr in der Nordkurve. Kaum zu glauben, dass diese verpixelte Anzeigetafel mal funktioniert hat. Es sind diese vielen kleinen Details am „Bölle“, die einen so in ihren Bann ziehen. Welcher andere Stadionbesucher hat denn noch die Wahl, sich bei einem schlechten Spiel seiner Mannschaft einfach umzudrehen und aus Trotz durch den Zaun wahlweise Feldhockey- oder Tennisspiele zu schauen, wie diejenigen 98er-Fans, die sich in der Südkurve niederlassen?

Feierabendprofis der alten Bundesligatage

Auch an Tagen an denen kein Spiel der Männer mit der Lilie auf der Brust zu sehen ist, kann man das Stadion besuchen, da mindestens eines der Tore immer tagsüber geöffnet ist. Auf diese Weise kann man das Stadiongelände selbst erkunden, sich auf der immer wieder verblüffend großen Gegengeraden an eines der zahlreichen Stahlrohre anlehnen, die Ruhe genießen und sich vor dem inneren Auge an gewonnene Schlachten oder auch bittere Niederlagen zurückerinnern. Wenn man den aufgeschütteten Wall der Stehplätze und das Waldkassenhäuschen Süd hinter sich lässt, lassen sich die zwei verbleibenden, schiefen Trainingsplätze des SV98 begutachten, die noch von richtigem Gras bewachsen sind. An schönen Tagen, wenn die Sonne zwischen den Baumstämmen des angrenzenden Waldes hindurch auf die veralteten Trainingsutensilien scheint, wähnt man sich in die Zeit Feierabendprofis der alten Bundesligatage zurückversetzt. Steht da vorne nicht der Schlappi mit seinem Hut? Auf der anderen Seite des Trainingsplatzes befindet sich der Trampelpfad, den die Gästefans, aus Richtung des TU-Campus kommend, zurücklegen müssen. In England haben die Gästemannschaften meist kleinere Kabinen mit versteckten Gemeinheiten, hier müssen eben die Gästefans bei Regen durch den Matsch laufen.

Neuer Fanblock zur neuen Saison

Ungewohnt, die Steigung hinauf zum Gästeblock zu nehmen und das Stadion aus diesem Blickwinkel zu sehen. Und überall diese nicht blau -weißen Aufkleber…naja, wenigstens die unerträglichsten sind jetzt abgerissen! Die Runde wird komplettiert mit einem Blick von der Nordkurve auf das Spielfeld und die gegenüberliegende Südkurve mit der Videoleinwand und den dahinterstehenden Fichten, die immer ein wenig bedrohlich wirken. Wenn man sich umdreht, grenzt das Hochschulstadion an die höher gelegene Kurve, das ebenso seinen eigenen Charme versprüht mit seinem renovierten Schwimmbecken, den Liegewiesen und den weiter hinten zu sehenden Säulen des Eingangstores. Bleibt als komplettierendes Element noch die Haupttribüne, die schon allein für die Darmstädter Eigenheiten Pate steht: Gab es doch seit langer Zeit zwei Fanblöcke, jeweils an den äußeren Enden, doch mit anderen Mentalitäten. Zur neuen Saison unternimmt die Fanszene einen erneuten Versuch, die supportwilligen Anhänger in einem einzigen Block zu versammeln. Doch ob dieses Vorhaben gelingen wird, ist mit Rücksicht auf die „Heiner-Mentalität“ noch alles andere als sicher: Wird doch gerade in Darmstadt Veränderungen oftmals sehr skeptisch begegnet. Das Böllenfalltorstadion wird auch diese Entwicklung in stoischer Ruhe abwarten, lediglich die Gegengerade wird sich noch um weitere Zentimeter nach unten bewegen, da jene auf Sumpfgebiet steht.

Individualismus adios?

Die Stadt Darmstadt hat auf Drängen des Vereins und Initiative des grünen Oberbürgermeisters Partsch eine Machbarkeitsstudie bezüglich eines Neubaus bzw. einer Renovierung des Böllenfalltors in Auftrag gegeben. Diese wird im Herbst erwartet. Manche Fans können es gar nicht abwarten, andere hingegen würden den Status Quo noch auf unbestimmte Zeit beibehalten. Warum? Da man absehen kann, dass es im Hinblick auf die katastrophale Finanzlage der Stadt und dem Konsolidierungskurs des SV98, auf eine absolute Sparvariante eines Fußballstadions hinauslaufen wird. Damit wäre Fußballdeutschland um eine seelenlose, graue 0815-Fertigbauteilarena reicher, die man auf den ersten Blick nicht von anderen unterscheiden kann. Individualismus adios. Auch der Standort steht zur Debatte, die Anbindung an die Autobahn ist zugegeben sehr ungünstig. Doch eventuell ist ein Ausbau der Straßen und eine Renovierung günstiger, als ein kompletter Neubau – die Studie wird die Antwort geben. Unabhängig von dieser kommenden Entscheidung, ist und bleibt das „Bölle“ mit bzw. aufgrund seiner vielen Nachteile und Eigenheiten, in Zeiten großer Spielerfluktuation, der größte Identifikationsfaktor von Darmstadt 98. Jemand, der dieses Stadion noch nicht besucht hat, die spezielle Atmosphäre des Böllenfalltors noch nicht genossen hat, sollte sich nicht zu viel Zeit lassen – womöglich bleiben nicht mehr allzu viele Spielzeiten über, in denen die Lilien im Böllenfalltor auf Gegners Tore zielen.

FOTO: regensburg1889.de

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