Rot-Weiss Essen: Wie groß kann der Riese werden?

Willkommen in der 3. Liga, Rot-Weiss Essen! Nachdem die Aufstiegspartys vorbei sind, liegt der Fokus auf den Planungen. Auf wie abseits des Rasens liegen viel Potenzial, aber auch Stolperfallen, die selbst den vielzitierten schlafenden Riesen aus dem Tritt bringen können. Eine Momentaufnahme, was die Liga erwarten könnte.

Die erfahrene Achse steht bereits

Platzstürme sind schrecklich inflationär geworden. Hauptsache drauf aufs Feld, am Besten gleich mit dem Smartphone bewaffnet, schnell ein Stück Rasen herausreißen, das Tor zertrümmern und sämtliche Wertgegenstände mitnehmen. Bei Rot-Weiss Essen sollte es solche Szenen am Samstag eigentlich nicht geben. Doch wenn die Emotionen an einem Standort nicht zurückgehalten werden konnten, dann an der Hafenstraße 97a in Essen-Bergeborbeck. Mit dem Abpfiff des 2:0 über Rot Weiss Ahlen stürmten Tausende das Feld und die Hoffnung, dass hier 24 Stunden später noch die Bundesliga-Frauen der SG Essen-Schönebeck ihr Heimspiel gegen Jena austragen könnten, sank rasch. Tags darauf feierten diese trotzdem den Klassenerhalt. Nur bekam das der verkaterte RWE-Fan nach einer rauschenden, denkwürdigen Aufstiegsparty kaum mit. Essen in der 3. Liga – das war über weit mehr als ein Jahrzehnt ein Traum, mal näher, mal weiter entfernt. Nun ist er aufgewacht, der "schlafende Reise", wie der RWE so gerne und so oft genannt wird. Nur: wie groß ist er wirklich?

Sportlich werden die Eckdaten mittlerweile klarer. Von vier Millionen Euro soll der Etat etwa auf acht Millionen ansteigen, damit sind weitere Upgrades des für Regionalliga-Verhältnisse ohnehin schon luxuriösen Kaders möglich. Rot-Weiss Essen ist kaum vergleichbar mit den Aufsteigern des Vorjahres wie Havelse oder Berlin, auch nicht mit der SpVgg Bayreuth, und selbst die betuchte SV Elversberg dürfte rein finanziell nicht mithalten können mit dem Paket, das Essen schnüren kann. Leistungsträger wie allen voran Regionalliga-Knipser Simon Engelmann bleiben ein weiteres Jahr, er betritt mit 33 Jahren erstmals Drittliga-Boden und bringt aber nach langer Unterforderung in der Regionalliga alles mit, auch in der 3. Liga ein Torjäger zu werden. Auch Felix Bastians (34) bleibt in der Saison 2022/23 an Bord, er ist Teil einer erfahrenen Achse, zu der seit Winter auch ein langfristig gebundener Ex-Teamkollege aus Bochum zählt: Thomas Eisfeld (29) ist bis 2024 unter Vertrag. Gekämpft wird noch um die Zukunft von Offensivwaffe Isaiah Young, um den auch Zweitligisten wie Magdeburg werben sollen.

Nirgendwo sind die Fans trotz Misserfolg so treu

Bekannt ist dazu erst ein Neuzugang: Ron Berlinski kommt vom künftigen Rivalen SC Verl, schoss diesen mit sieben Toren in den letzten sieben Saisonspielen zum Klassenerhalt – und ist als Flügelstürmer sowie mögliche zweite Spitze neben Engelmann als potenzielle Stammkraft einzuplanen. Aufgerüstet werden müsste wohl das defensive Mittelfeld, die Außenverteidiger-Position und nach der Suspendierung Daniel Davaris auch im Tor. Nicht verwunderlich wäre es, bliebe Essen seinem Beuteschema treu: Dann kämen in diesem Sommer neuerliche Duftmarken in Form von zweitliga-erfahrenen Führungsspielern. Nicht zuletzt braucht es nach der Freistellung des eigentlich sehr erfolgreichen Christian Neidhart – sein Vorgänger Christian Titz machte aus Magdeburg nun gar einen Zweitligisten – aber erneut ein gutes Händchen auf der Trainerposition. Auch dieser Posten ist noch offen, bis zum Trainingsstart Mitte Juni hat RWE noch etwas Zeit. Spätestens dann wird die Konkurrenz genauer abschätzen können, mit welchen Ambitionen dieser einstige Gigant tatsächlich an den Start geht.

Beeindruckend war in den vergangenen Jahren allemal die Masse, die hinter den elf teils bemitleidenswerten Spielern auf dem Rasen stand, während diese Saison für Saison den klar angepeilten Aufstieg gegen Vereine wie Lotte, Verl und Viktoria Köln mehr oder minder kläglich versiebten, teils gar nur im grauen Mittelfeld landeten. Doch egal, in welches Fettnäpfchen die Rot-Weißen traten: Ihre Fans kamen wieder. Nie sank der Zuschauerschnitt, die Corona-Pandemie natürlich ausgenommen, in den vergangenen zehn Jahren unter 6.800, in der Saison 2019/20 waren es gar fast 11.000, ein Wert, der ohne Einschränkungen auch in diesem Jahr problemlos möglich gewesen wäre. Nur 1860 München kam in der Vergangenheit als Regionalligist auf bessere Werte, allerdings waren die Umstände des Sechziger Absturzes ganz andere, und die Stippvisite im Amateurbereich auf ein Jahr begrenzt. Essen quälte sich seit 2007 durch die Niederungen, nachdem die Qualifikation zur neuen 3. Liga denkbar knapp verpasste wurde. 2011 ging es insolvenzbedingt gar runter bis in die 5. Liga. Selbst dort blieben mehr als 7.000 Fans pro Spiel am Ball, kaum einer wanderte zu einem der vielen Konkurrenzvereine im Pott ab. Mindestens 13.000 sollen es ab Juli pro Drittliga-Spiel sein.

Die 3. Liga verzeiht weniger Aktionismus

Die Rückkehr auf die große Bühne ist für Rot-Weiss Essen dabei nicht nur eine gewaltige Chance, sondern auch eine Verpflichtung – und eine Prüfung für das Umfeld. Nicht erst seit einer "Sportschau"-Dokumentation, die im vergangenen Herbst ausgestrahlt worden ist, sind die teils problematischen Strukturen innerhalb der Fanszene überregional in den Blickpunkt gerückt. RWE will diese politisch zumeist weit rechts verorteten Stadiongäste, laut WAZ-Recherchen aus dem Frühjahr beläuft sich die Gesamtzahl der Problemfans auf etwa 130, nicht in seinen Reihen, erkennt aber auch die Macht, die sie ausüben. Und macht, so der Vorwurf von außen, als Verein viel zu wenig gegen das damit eng verknüpfte Hooligan-Problem. In der vergangenen Saison gab es wilde Verfolgungsszenen beim Auswärtsspiel in Münster, als gewaltbereite Anhänger die Heimtribünen stürmten, Fans verletzt wurden. Auf der Aufstiegsfeier machte kürzlich das Video eines "Sieg Heil"-Rufes die Runde. All das wirft große Schatten auf die eigentlich vielfältige, extrem treue Anhängerschaft, die nun vermehrt im nationalen Fokus steht und dort – gemeinsam mit dem Klub – viel gegen den schlechten Ruf tun kann.

Rot-Weiss Essen polarisiert, Rot-Weiss Essen schlägt über die Stränge, Rot-Weiss Essen hat seine Attraktivität auch durch viele Ecken und Kanten und passt daher so gut in sein wenig glanzvolles Umfeld. Allen voran muss Rot-Weiss Essen in den kommenden Monaten aber nach 15 quälend langen Jahren wieder lernen, nicht mehr die alleinige Nummer eins seiner Liga zu sein. Vielleicht hat das sogar Vorteile, vielleicht ist nicht mehr jeder Gegner – so zumindest die jahrelange Vermutung – gegen RWE bis in die Haarspitzen motiviert. Und doch gehört dieser Klub sogleich zur Liga-Elite, wird hinter Kaiserslautern oder Dresden und auf Augenhöhe mit 1860 München zu den zuschauerstärksten Vereinen zählen. Er wird sich aber auch weniger Fehler erlauben, weniger aktionistische Entscheidungen treffen dürfen: Zwei suspendierte Kapitäne und ein verdammt spät geschasster Trainer hinderten zwar dieses Mal nicht am Aufstieg in die 3. Liga. Doch souverän wirkte das Auftreten längst nicht immer.

RWE muss einen Ruf bekämpfen

Rot-Weiss Essen war zu oft gut darin, sich auf der Erfolgsmission selbst im Weg zu stehen. Auch dieser Ruf kommt mit in die neue Spielklasse – man täte gut daran, ihn abzulegen. Wo Profifußball draufsteht, muss auch Professionalität drinstecken, vom Trainerteam über die Gremien bis zu den Fans. Aus der Vergangenheit zu leben, ist kein guter Begleiter. Aus dieser zu früh den Anspruch an höhere Ziele als das Etablieren in der Drittklassigkeit zu stellen – langfristig sieht sich RWE unter den Top25 -, wäre ein noch viel schlechterer. In Essen gibt es die nötige Sponsorenkraft im Hintergrund, gibt es die Ambitionen und die Infrastruktur mit einem 20.000 Zuschauer fassenden, modernen Stadion. Bewahrt der Verein auch in Krisenzeiten die Ruhe, wird die Zukunft eine gute. Erwacht mag der Riese zwar sein, sich zu voller Größe aufgerichtet aber noch lange nicht.

   
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