Titel und Tränen #1: Magdeburger Aufstiegsparty auf dem Dorf

Es ist Mitte Mai. Eigentlich würde sich nun die Saison entscheiden – doch nicht im Jahr 2020, nicht im Jahr der Corona-Pandemie. Wir nutzen die Zeit und blicken in einer Serie auf die spannendsten und emotionalsten Saisonfinal-Momente der vergangenen Jahre zurück. Im ersten Teil blicken wir exakt zwei Jahre zurück, als sich der 1. FC Magdeburg am 12. Mai 2018 in Lotte zum Meister kürte.

Mit 85 Punkten Drittliga-Rekord eingestellt

Am 12. Mai 2018 sind die Autobahnen, die Sachsen-Anhalt auf kürzestem Weg mit der deutsch-niederländischen Grenze verbinden, blau: Familien, Freunde, Kollegen, Mitspieler – für alle Fans des 1. FC Magdeburg, insgesamt sind es über 5.000, wird die Reise zum vorerst letzten Auswärtsspiel in der 3. Liga zur riesigen Party auf dem Dorf: Die Sportfreunde Lotte sind der Gegner. Der erstmalige Aufstieg in die 2. Bundesliga ist seit drei Wochen unter Dach und Fach. Ein 2:0-Heimsieg über Fortuna Köln vor der Menge von 22.000 Begeisterten setzte bereits am 21. April das Sahnehäubchen auf eine überragende Spielzeit, die im Bestwert von 85 (!) Punkten enden sollte. Nur Eintracht Braunschweig kam im Jahr 2011 auf die gleiche Punktzahl.

Wie sehr die Magdeburger unter ihrem damaligen Trainer Jens Härtel Lust auf den Endspurt haben, zeigt sich auch in den Folgewochen: Trotz des Spannungsabfalls und einer Aufstiegsfeier, bei der es auch zu Ausschreitungen gekommen war, schreibt der FCM sportlich einfach weiter bestmögliche Schlagzeilen: Das (bedeutungslose) Derby beim Halleschen FC wird souverän gewonnen, beim 3:1-Heimsieg über den Chemnitzer FC stimmt der ein oder andere freudetrunken "Nie mehr 3. Liga!" an. Wie man sich täuschen kann: Keine zwei Jahre später werden sich die Klubs an gleicher Stelle mitten im Drittliga-Abstiegskampf wiedertreffen.

Das Magdeburger Geheimnis

An all das will und kann keiner, der es mit den "Magdeburger Jungs" hält, an diesem frühsommerlichen Samstag denken: Für die Anhänger der Härtel-Elf ist es nichts anderes als ein verspäteter Maifeiertag, der mit einem sportlich irrelevanten, aber prestigeträchtigen letzten Akt besiegelt werden soll: Ein Sieg würde genügen, um die Drittliga-Meisterschaft vor dem SC Paderborn zu erlangen. Dabei hatte der Rivale aus Ostwestfalen unter den zwei dominierenden Teams der Saison 2017/18 den nochmals besseren, technisch hochwertigeren Fußball gespielt, so manchen Gegner damit gar in seine Einzelteile zerlegt. Magdeburg stand für seine Charakterspieler, Wille und Disziplin war hier keine Floskel, sondern Erfolgsmittel. Obgleich viele Spieler zum Einsatz kamen und nur wenige wie Christian Beck und Nils Butzen immer gesetzt waren, wusste Härtel die perfekte, gierige Mischung immer wieder auf das Feld zu bringen. Keiner sollte sein Vertrauen enttäuschen.

In Lotte trifft der FCM auf Gastgeber, die man nur gernhaben kann. Für die Sportfreunde ist ein solcher Besuch, am Ende strömen 7.200 Zuschauer in das Stadion am Lotter Autobahnkreuz, nicht nur ein Zahltag, sondern auch ein kleines Volksfest. Die Veranstalter reagieren clever und pfeifen auf die sportliche Rivalität – ohnehin haben die Hausherren den Klassenerhalt schon in der Tasche. Statt die Gäste mit dem obligatorischen Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu begrüßen, stimmen die Sportfreunde zunächst die Magdeburger Vereinshymne an und lassen anschließend sogar die Aufstellung des künftigen Zweitligisten im klassischen Wechselruf mit der Anhängerschaft zelebrieren. Das Publikum aus Mitteldeutschland ist zunächst überrascht, dann strecken Fans auf drei der vier Tribünen ihre Schals in die Höhe und singen. Lotte ist fest in Magdeburger Hand.

Der bange Blick nach Köln

Auf dem Rasen gibt es von Lotte, bei denen Trainer Andreas Golombek zum letzten Mal an der Seitenlinie steht, keine Gastgeschenke. Der 1. FC Magdeburg, der noch nie Punkte an die Sportfreunde Lotte abgegeben hat, tut sich schwer, auch wenn Christian Beck nach einer Viertelstunde die Latte trifft. So geht der Blick regelmäßig auf das Handy: Parallel spielt der Zweite Paderborn, der mit zwei Zählern weniger, aber dem besseren Torverhältnis in den Schlussakt geht, bei Fortuna Köln. Jubel brandet auf, als Köln nach einer Stunde die SCP-Führung in einen 2:1-Zwischenstand biegt. Missmutig nehmen die FCM-Fans zur Kenntnis, dass Paderborn Gegenwehr leistet, selbst wieder mit 3:2 in Führung geht und später 4:2 gewinnt. Bei einem Remis wären die Ostwestfalen Meister.

Doch der FCM schlägt in der 89. Minute zurück. Und kein Geringerer als Nils Butzen erlöst die Elbstädter mit seinem goldenen Tor, mit dem 1:0. Butzen, der Konstante, der Variable, der selten Überragende, der Teamplayer und Kämpfer. Der Mann, der in Magdeburg gemäß eigener Aussage die Karriere hätte beenden wollen, ehe ihm der Klub im Zweitliga-Abstiegskampf urplötzlich fremd wurde. Der dann dem Ruf seines ehemaligen Trainers Jens Härtel folgte. Und der dem FCM in der laufenden – jetzt unterbrochenen – Spielzeit so bitter fehlt. Doch als Butzens Ball die Linie überquert, satt im Netz einschlägt, brechen alle Dämme. Ersatzspieler stürmen das Feld. Sport-Geschäftsführer Mario Kallnik jubelt hunderten FCM-Fans auf der Haupttribüne mit hoch ausgestreckten Armen entgegen. Nico Hammann vergisst seinen Meniskusriss und lässt die Gehhilfen tanzen. Eskalation im Tecklenburger Land. Minuten später ist der 1. FC Magdeburg Drittliga-Meister. Die zweite große Party beginnt.

Und wie sieht es heute aus?

Der Blick in die Realität ernüchtert – und zwar auf beiden Seiten. Angefangen mit den Sportfreunden Lotte, sehen wir zwei Jahre später einen Regionalligisten von vielen in der West-Staffel: Die SFL sind Zehnter, weit weg von den fetten Plätzen. Der SV Rödinghausen und der SC Verl, zwei Klubs vom Kaliber und der Infrastruktur der Sportfreunde, belegen die ersten Plätze, dahinter muss sich Lotte nach dem Drittliga-Abstieg 2019 in Essen und Oberhausen mit zwei gewichtigen Traditionsvereinen messen. Trainer Ismail Atalan ging Anfang des Jahres zum Halleschen FC – das verwunderte nicht wirklich, seine Ambitionen sind höhere als die Regionalliga. Nun hat Imke Wübbenhorst das Zepter übernommen, als eine der ersten Frauen im höherklassigen Männer-Fußball wird sie im Fokus stehen. Es ist Aufmerksamkeit, die den Sportfreunden guttut, um im Schatten des Ortsnachbarn VfL Osnabrück nicht unterzugehen.

Für Magdeburg wurde die zweite Liga zur Charakterprobe, und der FCM bestand sie nicht wirklich. Schlecht vorbereitet auf die neue Spielklasse misslang der Start, unerfahren in Krisensituationen reagierte man zu schnell und entledigte sich in Trainer Jens Härtel früh der Seele des Aufstiegs. Seitdem bröckelt der Zusammenhalt, in Michael Oenning und Stefan Krämer sind zwei weitere Übungsleiter binnen etwa eines Jahres verschlissen worden. Magdeburg stieg aus der 2. Bundesliga direkt wieder ab, bei einer Saisonfortsetzung droht der jetzige Tabellen-Fünfzehnte von der Elbe seinerseits in die vierte Liga durchgereicht zu werden. Trainer ist seit Jahresbeginn Claus-Dieter Wollitz, der bisher allerdings nur eines von sieben Pflichtspielen gewinnen konnte.

   

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