Mein Alltag als Fan und Gastronomie-Mitarbeiter

Samstagvormittag, 12 Uhr. Der sechste Spieltag der dritten Fußballbundesliga steht an. Der heimische RW Ahlen – „mein" RW Ahlen – spielt heute zu Hause im Wersestadion gegen die Spitzenreiter aus Offenbach und für mich heißt das mal wieder nicht nur Anspannung und Hoffen auf den ersten Heimsieg der Saison, sondern auch ganz nüchtern: „Ab hinter den Grill!". Ich bin Sven, 25 Jahre alt und Fan des einzigen Drittligisten aus Nordrheinwestfalen. Seit mehr als zehn Jahren verfolge ich die Erfolge und Niederlagen der zurzeit erfolgreichsten Mannschaft aus dem Münsterland. 2002 wechselte ich dann die Seiten: Vom Stehplatz ging es hinter die Tribüne. Mein fußballerisches Zuhause ist seither einer der zahlreichen Gastronomiestände. Auch heute, wo ich entlang der Haupttribüne zu meinem Arbeitsplatz hinter die vor einem Jahr neu erbaute Südtribüne gehe, packt mich ein Gefühl, das schwer zu beschreiben ist.

Es ist eine Mischung von Vorfreude und Ungewissheit, was der Arbeitstag und vor allem das Geschehen auf dem Platz mit sich bringen. Aber auch Sehnsucht ist dabei, denn jeder Fan, ob groß oder klein, ob Malocher oder Sponsor, möchte wohl am liebsten die Mannschaft direkt von den Rängen anfeuern. Andererseits empfinde ich einen Funken Stolz. Stolz, ein Teil des großen Ganzen zu sein und das nicht nur als Fan, sondern auch als Mitarbeiter im Background.
Alles beginnt anfangs ganz ruhig. Auch dieser Zustand gehört zu meinem etwas anderen Fußballalltag. Wer erlebt schon als reiner Fan einen stillen und ruhigen Ort, an dem nur wenige Stunden später tausende Anhänger ihre Mannschaften anfeuern? Noch bevor die ersten Mengen die Kassen und Eingänge passieren, kümmern wir uns um die Vorbereitungen. Zwischendurch dürfen aber Konversationen mit anderen Mitarbeitern, Fanbetreuern, freiwilligen Helfern und dem Ordnerpersonal nicht fehlen, da uns alle eins verbindet: Die Arbeit im Hintergrund, im Stadion eines Drittligisten.
Dann geht es los. Die Eingänge werden geöffnet und schnell finden erste Personen den Weg zu unserem Stand. Nach fast zehn Jahren kennt man die meisten Besucher des Wersestadions und so gehört neben dem Verkauf von Pommes, Wurst und Co. immer auch das ein oder andere Gespräch über Verein, Mannschaft und sportliche Aussichten dazu. So spielt es sich im Normalfall vor jedem Spiel ab und meistens sind die Fans vorab noch sehr gut gelaunt. Auch heute sieht man ihnen ihre Vorfreude auf das Spiel an. Anders war es da im letzten, dem Abstiegsjahr aus der 2. Bundesliga.
Nicht nur bei unseren „Kunden", auch bei mir verdrängte ein Gefühl von Resignation immer mehr die Hoffnung auf das Wunder von Ahlen. Vielleicht aus Enttäuschung über die sportliche Misere der vergangenen Saison trat das Spiel mehr und mehr in den Hintergrund. Doch gerade weil Gastronomen gute Schauspieler sein müssen und niemals schlecht gelaunt sind, hielt ich mich mit dem Gedanken bei Laune, dass ich mit meinem „Besuch" im Stadion noch Geld verdienen kann und nicht noch für schlechtes Ballspiel ausgeben muss.
In unserer ersten Drittligasaison soll nun alles anders werden. Vielleicht ja endlich heute mit dem Sieg gegen den Tabellenführer? Der Platz hinter der Tribüne leert sich langsam. Die Fußballhymne schlechthin – You’ll never  walk alone – erklingt. Ein Zeichen dafür, dass das Spiel gleich losgeht. Ich lege schnell noch Kohle nach, um den Grill bis zur Halbzeit wieder auf Hitze zu bringen und bereite mich dann auf eine größtenteils ruhige dreiviertel Stunde vor.
Wo es dann hin geht, sollte nicht schwer zu erraten sein. Ganz typisch für einen von der Faszination Fußball ergriffenen Menschen, besteige auch ich die Stufen zu den Plätzen direkt oberhalb unseres Arbeitsplatzes. Das ist dann der Moment von 90 Minuten Spielzeit, in dem ich gedanklich weit weg vom Grill bin. Nun bin ich gänzlich Fan, beobachte einen Teil des Spielgeschehens und hoffe, so wie alle anderen auf ein frühes Tor unserer Elf. Dabei genieße ich aber auch die Emotionen und Fangesänge, bis ich nur wenige Minuten später wieder zurück in die Realität komme.
Den Rest des Spiels verlasse ich mich weitgehend auf mein Gehör. Zwar sehe ich nicht, was auf dem Platz passiert, doch ich höre es und mittlerweile kann ich mir an Hand der Reaktionen des Publikums sehr genau vorstellen, was gerade passiert. Vielleicht sollte ich damit mal zu „Wetten das?". So fiebere ich während der Arbeit mit. Bei jedem Aufstöhnen, bei allen Beschwerden und vor allem beim Jubel nach einem Tor bin auch ich dabei und so ist es nicht erst einmal vorgekommen, dass ich den Stand um mich herum vergessen habe, und wenigstens gedanklich auf der Tribüne stand. Man wird dann schon oft schräg angeschaut, wenn man den Emotionen verfällt und selbst in die Höhe springt, wenn der RW Ahlen den Kasten trifft.
An diesem Spieltag durfte ich dieses Gefühl gleich drei Mal erleben. Zwar haben die Kickers aus Offenbach die gleiche Anzahl an Toren geschossen, doch schien es, gemessen an den Reaktionen der Fans bzw. unserer Kunden nach dem Spiel, ein erfolgreicher Tag gewesen zu sein. Man sieht also, dass auch nach Abpfiff der Partie noch lang nicht Schluss ist. Von einigen lasse ich mir die vergangenen 90 Spielminuten zusammenfassen, mit anderen wird neben dem Grillen und Frittieren über das Ergebnis und die Leistung der Mannschaft diskutiert.
Wieder ist ein besonderer Tag in meinem „Fußball-Leben" vorbei. Vielleicht erinnere ich mich in einigen Jahren auch noch an dieses 3:3 Unentschieden. Doch da sind noch mehr unvergessliche Momente:
Ein Beispiel ist sicher die letzte Begegnung der Saison 2004/2005 bei den Löwen in München. Kurzfristig entschied sich ein großer Teil der Gastronomie-Mannschaft dazu, das Angebot des Vereins anzunehmen und gemeinsam in einem der gestellten Busse mit zum Entscheidungsspiel zu fahren. Auch für uns stand damals viel auf dem Spiel. Nur ein Sieg bedeutete den Klassenerhalt. Was im Falle eines Abstiegs mit uns passieren würde, wollten wir uns erst gar nicht ausmalen. Doch wir waren uns sicher, dass in der damaligen Regionalliga mit großer Sicherheit nicht mehr genauso viel Personal gebraucht würde, wie in einer Spielzeit im Unterhaus des deutschen Fußballs.
Da standen wir dann zusammen im Stadion an der Grünwalderstraße und litten mit all den anderen. Am Ende hieß es 3:4. Auswärtssieg für LR Ahlen. Wir, die sonst nur am Zapfhahn und im Imbiss stehen, durften eines der besten und spannendsten Spiele verfolgen und am Ende als Fans mit Fans feiern.
Ein anderes unvergessliches Erlebnis war das Aufstiegsjahr 2008. Schon früh war klar, dass der Rot Weiß Ahlen den Aufstieg von der Regionalliga Nord in die zweite Bundesliga schafft. Trotz allem hieß es aber weiterhin der Pflicht nachgehen. Natürlich muss ich mich auch in solchen Situationen zurück halten, doch am letzten Heimspiel tauschte ich kurzerhand die Arbeitskleidung gegen das Trikot. Mit Shirt und Fan-Schal stand ich also an der Friteuse und da ich an diesem Tag zwei wirklich liebe Kollegen dabei hatte, war es auch kein Problem für mich, zwischendurch der guten Stimmung freien Lauf zu lassen und aus einem gewöhnlichen Arbeitstag eine Party zwischen Tribüne und Pommes zu machen.
Auch wenn sich nicht viele Anhänger eines Vereins meinen Alltag vorstellen können, möchte ich in naher Zukunft nicht tauschen. Auch gerade deshalb hoffe ich, dass diese Saison nicht so ausgeht, wie die letzte. Regionalliga West würde nicht nur für den Verein Konsequenzen mit sich ziehen, sondern irgendwann wohl auch für uns. Dabei bleiben würde ich trotzdem, egal ob als Dauerkartenbesitzer oder als Mann im Background. „Einmal Fan, immer Fan!"

   

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