3. Liga: Idylle gesucht! Das bedrohte Glück

Ort: Parc des Princes, Paris, Frankreich – Kurz vor Anpfiff: Der Stadionsprecher ruft, er brüllt förmlich in sein Mikrofon: „La Tribune Auteuil – faites du bruit!!!“ Was soviel heißt wie: „Auteuil-Tribüne – macht mal Lärm!“ Und die Zuschauer gehorchen und rufen und schreien. Diesen Ablauf wiederholt der Stadionsprecher dann noch dreimal, für alle anderen Tribünen. Ich sitze auf der Gegengeraden, nippe an meiner Coke-Zero aus der 0.5L PET-Flasche und beiße in meinen Fertig-Hot-Dog während der deutsche Fußballfan in mir schreit: „Ich will wieder nach Hause!“.

Ein Fußballstadion ist kein Jahrmarkt

Mithilfe des europäischen Austauschprogramms ERASMUS für ein Jahr als Gaststudent in der Stadt der Liebe, komme ich natürlich nicht ohne meinen Lieblingssport aus. Als örtlicher Erstligist bietet sich Paris St. Germain für einen Besuch an. Jener Club, der nach der Übernahme durch einen katarschen Investor als legitimer Nachfolger von Manchester City in der Rolle des neureichen Emporkömmlings im europäischen Fußball gesehen werden kann. Das Vorprogramm fügt sich ganz in dieses eher negative Bild hinein. Man kommt sich eher wie auf einem Jahrmarkt vor, als im Fußballstadion. Und der Stadionsprecher wäre in der Berufsgruppe der Animateure sicherlich besser aufgehoben.

Zwei Welten prallen aufeinander

Natürlich, auch in unseren (Bundesliga-) Stadien gibt es stetig mehr solcher Phänomene zu beobachten, doch ist der typische deutsche Fußballfan diesem Eventcharakter von Haus aus eher skeptisch eingestellt. Vor allem derjenige, an dem der Kelch der Modernisierung bisher weitestgehend vorbei gegangen ist. Ich komme aus Darmstadt und bin Fan der Männer mit der Lilie auf der Brust: Der SV Darmstadt 98 kämpft zurzeit um den Klassenerhalt in der dritten Liga. Diese dritte Liga ist oftmals ein Ort, wo zwei Welten aufeinanderprallen: Die Moderne, verkörpert durch strenge Auflagen des Fußballverbandes und die Vergangenheit in Form von Selbstbild und Gewohnheiten der Fans sowie, zumindest bei manchen Vereinen, der Rahmenbedingungen:

Ein Ort der Vergänglichkeit

Durch den vorangetriebenen Modernisierungsprozess ist die dritte Liga somit ein Ort der Vergänglichkeit beziehungsweise der Vergangenheit, denn es existiert bei einigen Clubs, bedingt durch die Stadien und der im Verhältnis gesehen weniger vorangeschrittenen Kommerzialisierung, noch eine gewisse Freiheit: Im alt-ehrwürdigen Darmstädter Stadion am Böllenfalltor, an dem außer dem Einbau hellerer Glühbirnen in die Flutlichtanlage, seit dem Anfang der 80er Jahre nichts mehr größeres geändert wurde, kann man sich noch seine Bratwurst mit Bargeld kaufen und dazu das ein oder andere (alkoholhaltige) Bier trinken. Auch kann man sich in diesem Relikt vergangener Zeit auf den Stehplätzen fast komplett frei bewegen, lediglich der Gästebereich ist sinnigerweise abgesperrt.

Tradition in der 3. Liga

Außerdem gibt es noch Bäume auf dem Stadiongelände und die Hockeyspieler des benachbarten Vereins können durch den Maschendrahtzaun kostenlos die Spiele verfolgen, sofern sich nicht überdurchschnittlich viele Zuschauer im weiten Rund aufhalten.  Als weiteres Beispiel für solche, in der heutigen Zeit fast unwirklich wirkende Zustände findet sich noch Regensburg, wo man von den benachbarten Wohnhäusern, freilich ab einer gewissen Höhe, problemlos die Spiele des Jahn gucken kann. Auch das Niederrheinstadion in Oberhausen, das Erfurter Steigerwaldstadion oder das Preußenstadion in Münster haben beispielsweise noch mehr Stehplätze als Sitzplätze verzeichnet und es gibt noch keine Langnese-Familienblöcke.

Den alten Geist wahren

Gleiches gilt für den Saarbrücker Ludwigspark, bei dem das Unkraut die Stufen der steilen Stehränge im Laufe der Zeit vereinnahmt hat und somit ebenfalls diesen ganz eigenen Charme ausstrahlt. Doch werden die eben beschriebenen Verhältnisse immer mehr von den modernen, von völliger Kontrolle geprägten Strukturen verdrängt, auch in der dritten Liga: In der Chemnitzer Gellertstraße wird bald ein neues Zuhause für die Himmelblauen realisiert, ohne den Stromverteiler aus Zeiten der Reichspost und auch ohne die Sitzschalen der Haupttribüne, die aus ausrangierten Straßenbahnen stammen. Auch müssen die OFC-Fans um ihre zwei alten Flutlichtmasten kämpfen, die keine andere Aufgabe mehr hätten, als den alten Geist vom Offenbacher Bieberer Berg zu bewahren – Für das Licht sorgen nun andere, modernere Lampen über den Tribünen.

VIP-Lounges mit eigener Weinkarte ?

Die Kritik von vielen Fans geht in die Richtung, dass der Geist der Freiheit und des Individualismus aus vergangener Zeit gegen Überwachungskameras, Absperrzäune und finanzielle Machbarkeit eingetauscht wird. Die Vorgaben werden vom DFB zur Voraussetzung für die Lizenzvergabe gemacht – in den meisten alten Stadien darf nur mit Ausnahmegenehmigungen gespielt werden, wie aktuell in Chemnitz. Früher oder später werden also auch die letzten Bastionen der früheren Tage verschwunden sein und das muss natürlich nicht nur schlecht sein: Rasenheizungen machen Spielabsagen aufgrund gefrorenen Rasens vergessen, VIP-Lounges mit eigener Weinkarte sprechen finanzkräftige Sponsoren eher an, als die Aussicht auf ein VIP-Zelt mit Bierbänken und Currywurst und nicht zuletzt ist ein Dach über dem Kopf ein nicht zu unterschätzendes Argument gegen die Witterung.

Wahre Liebe definiert sich über „gelebte Treue“

Dem gegenüber steht der Typ Fan, der bei Wind und Wetter ins Stadion geht. Diejenigen, die von den guten alten Zeiten schwärmen, die oftmals jedoch gar nicht so gut waren. Diese Gruppe der Fans, sehen sich meist als die wahren Anhänger ihres Clubs und wehren sich in der Regel gegen jegliche Innovation, welche die Identität des Vereins gefährdet, wie zum Beispiel der Verkauf des Stadionnamens. Und auch die Bratwurst kann noch so fettig sein, die Mannschaft noch so schlecht – wahre Liebe zum Verein definiert sich nur über diese „gelebte Treue“. Dennoch liegt die Wahrheit irgendwo zwischen diesen beiden Extremen, denn die Freiheit aus vergangenen Zeiten und auch das Argument, dass es Gewalt schon immer gab, nur, dass es früher niemanden interessiert hat, kann man nicht auf die heutige Zeit mit dem Internet und den omnipräsenten Medien übertragen.

Die Tage sind gezählt

Je mehr sich eine aktive Fanszene in Form von bengalischen Feuern, Gewalt etc. leistet, desto enger wird der Kontrollgürtel gezogen, desto mehr Freiheiten werden vom Verein gestrichen. Der jedoch selbst nur ein Getriebener der Sponsoren und der DFL bzw. des DFBs ist. Auf der anderen Seite kann es auch nicht im Interesse der Vereinsverantwortlichen liegen, am Ende keine Leute mehr im Stadion zu haben, die für Stimmung und Emotionen stehen und noch weniger, dass der Stadionsprecher wirklich ein Talent zum Animateur mitbringen muss, um etwas Atmosphäre zu entfachen. Wie auch immer man zu diesem Thema steht, Fakt ist, dass die Tage in Stadien wie dem Steigerwaldstadion oder dem Jahnstadion gezählt sind. Fußballromantiker, die noch im Genuss ihrer ursprünglichen Pilgerstätte sind, sollten sich allmählich auf den Abschied gefasst machen. Die letzten Spiele im alten, oftmals zitierten „zweiten Wohnzimmer“ können als rares Gut betrachtet werden. Ansonsten kann dann auch schon mal unter den Anhängern der Drittligaclubs geübt werden, wie man „Lärm“ macht – nur für den Fall.

Die Uhr tickt.

 

   
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